Atomfall

   Von Miggi

Titelbild zu Atomfall von Rebellion Developments

Wenn es um atomare Katastrophen geht, bin ich immer direkt ganz vorne dabei. Also nur in Videospielen natürlich, sonst würde ich diese Review jetzt nicht mehr ganz so motiviert tippen. Die Faszination dem Setting gegenüber schiebe ich in dem Fall ganz klar auf meine frühen Erfahrungen mit der S.T.A.L.K.E.R.-Reihe und Spiele wie die Fallout- und Metro-Reihe haben dann bei mir nur weiter offene Türen eingerannt und diese auch direkt offen gelassen. Nachdem ich mich nun aber schon durch diverse Orte in Amerika, der Ukraine und Russland gekämpft habe, war es langsam mal an der Zeit für ein neues Land auf der Weltkarte. Und weil Leute nicht nur in bestimmten Ländern dumm sind und es genug atomare Hoppalas in der Geschichte der Menschheit gibt, kann man sich auch einfach mal eine andere Begebenheit zur Inspiration nehmen. In Atomfall ist das deshalb der Windscale-Brand aus dem Jahr 1957, der gröbste Atom-Zwischenfall in der Geschichte des Vereinigten Königreichs.

In der Alternativ-Geschichte des Spiels ist dieser Vorfall allerdings anders passiert, als in der Realität: kurz nach dem zweiten Weltkrieg wurde im Lake District in Cumbria bei Ausgrabungen ein seltsamer Meteorit entdeckt und um diesen Fund zu vertuschen hat die frisch gegründete Organisation B.A.R.D. - das steht für British Atomic Research Division - einfach mal ein Atomkraftwerk darüber gebaut. Was man halt so macht, um Dinge zu vertuschen. Aber to be fair - sie haben auch eine Menge Strom gebraucht für die ganzen unterirdischen Bunker, Forschungsstationen und ihr Equipment. 1957 hat dann allerdings eine Energiewelle das Kraftwerk zerstört und dabei ein Feld rund um das Gebiet erscheinen lassen, das alle Signale nach drinnen oder draußen blockiert hat und die Britische Regierung deshalb eine Quarantäne über das Gebiet verhängt hat. Und in dieser Zone wacht ihr nun zu Beginn des Spiels auf, ohne zu wissen wer ihr seid oder was ihr dort macht. Eure einzige Spur ist eine Schlüsselkarte eines Wissenschaftlers und eine Stimme, die euch über eine Telefonzelle mitteilt, dass Oberon sterben muss. Herzlich Willkommen in Slatten Dale, Cumberland!

Eine Telefonzelle in Slatten Dale, Cumberland in Atomfall von Rebellion Developments
What's your telephone number? Tell me, tell me Sue! Is it 68702?

Tatsächlich ist Atomfall in der Story und den Missionen sehr sparsam mit Hinweisen, direkten Quest-Anweisungen oder anderen Hilfestellungen, die ihr aus anderen RPGs vermutlich mittlerweile gewohnt seid. Denn so richtige Quests-Quests gibt es in diesem Spiel gar nicht. Die Story oder besser gesagt, was ihr daraus macht, ist stattdessen in einzelne Hinweise verpackt, die ihr entweder in Dokumenten finden oder in Gesprächen aufschnappen könnt. So erfahrt ihr z.B. relativ nah von eurem Ausgangspunkt von Nat Buckshaw, dass es weiter im Norden von Slatten Dale eine Siedlung namens Wyndham Village gibt. Dort angekommen, könnt ihr weitere wichtige Hinweise finden und obwohl ich mich persönlich anfangs etwas verloren gefühlt habe, hat es doch recht schnell "Klick!" gemacht und ich bin von einem Hinweis zum nächsten gesprungen, habe mir meine Quests selbst zusammengesucht und hatte am Ende viel Spaß mit den verschiedenen Fraktionen, NPCs und Lösungswegen meinen eigenen Weg ans Ziel zu finden. Insgesamt gibt es im Spiel sechs verschiedene Enden, die ihr erreichen könnt, je nachdem, mit wem ihr euch im Laufe der Story zusammentut.

 

Das Spiel selbst ist dabei keine nahtlos zusammenhängende Welt, die ihr komplett frei bereisen könnt, sondern aufgeteilt in fünf kompaktere Gebiete, die euch in sich aber jeweils komplett offen stehen. Habt ihr ein neues Gebiet erreicht könnt ihr die Karte davon aufrufen und habt im Idealfall schon den ein oder anderen Hinweis gefunden, der euch einen oder mehrere wichtige Punkte auf der Karte als Fragezeichen markiert hat. Betretet ihr eine Höhle oder sonstige Innenräume seid ihr allerdings auf euch allein und eure eigene Orientierung gestellt, Karten gibt es dort keine. Diese kompaktere Spielwelt macht sich auch in der Spielzeit bemerkbar: verfolgt ihr manche der Enden geradlinig und stur, könnt ihr schon in ca. 7 Stunden den Abspann sehen, wenn ihr alles genau erkunden, alle Hinweise untersuchen und vielleicht auch alle Enden sehen wollt, könnt ihr aber auch gut und gerne über 20 Stunden im Spiel versenken. Ich hatte mit knapp über 10 Stunden und zwei der Enden eine gute Balance gefunden.

Eine riesige Statue einer Figur aus Holz und Stroh in Atomfall von Rebellion Developments
Burning Man hatte ich mir irgendwie immer anders vorgestellt.

Euch in den Weg stellen sich am Weg dorthin aber auch allerhand Gefahren: ihr bekommt es mit Soldaten der Protocol-Fraktion zu tun, die versuchen Recht und Ordnung in die Zone zu bringen, trefft auf Druiden, denn was wäre eine Semi-Open World Atom-RPG schon ohne eine kultistische Fraktion und natürlich gibt es auch ganz ordinäre Banditen, die euch ans Leder wollen. Neben der Gefahr in Menschenform müsst ihr euch aber auch vor mutierten Pflanzen und anderen Gefahren aus der Umwelt wie Gift, Strahlung oder seltsamen Sporen in Acht nehmen, die euch langsam dahinraffen, wenn ihr nicht genug Heilungsgegenstände eingepackt habt. Zum Glück gibt euch das Spiel ein Crafting-Menü mit an die Hand, mit dem ihr euch mit dem richtigen Material auch jederzeit selbst Verbände oder Gegengift erstellen könnt. Aber aufgepasst: der Platz in eurem Rucksack ist begrenzt und habt ihr wie ich anfangs schon alles voll mit Cornish Pasty, könnt ihr recht schnell keine neuen Gegenstände mehr einpacken oder craften, die vermutlich nützlicher sind als ein bisschen Gebäck.

 

Vier Plätze in eurem Inventar sind dabei reserviert für eure Waffen. Anfangs habt ihr vermutlich irgendeine Nahkampfwaffe und höchstens einen verrosteten Revolver mit zwei bis drei Kugeln, im weiteren Spielverlauf könnt ihr euer Arsenal aber ordentlich ausbauen und Munition solltet ihr dafür dann genug haben. Bevor ich gegen Spielende ein richtig gutes Gewehr gefunden habe, habe ich am liebsten mit dem Bogen meine Runden gedreht, vor allem, weil ihr die Pfeile davon auch einfach wieder aufsammeln könnt. Nur die Thralls haben mir bis zum Ende echt Angst eingejagt, weil die Kugeln fressen wie sonst nichts, aber mit allen anderen Gegnertypen bin ich recht gut klargekommen. Wie auch in S.T.A.L.K.E.R. seid ihr in Atomfall aber auf keinen Fall eine Kampfmaschine oder ein Supersoldat - ein paar Treffer und ihr seht schneller den Game Over-Screen als euch lieb ist. Um euch das Leben in der Zone etwas leichter zu machen, könnt ihr aber überall verteilt Spritzen finden, die euch Skillpunkte geben, die ihr dann in diverse aktive und passive Skills eintauschen könnt. Außerdem habt ihr einen Tritt als Aktion, den ihr nicht unterschätzen solltet: kommt euch ein Gegner zu nahe, könnt ihr ihn damit kurz außer Gefecht setzen und die Zeit dafür nutzen nachzuladen oder den entscheidenden Treffer zu landen.

Wyndham Village in Atomfall von Rebellion Developments
Wäre es hier etwas weniger, nun ja, verstrahlt, wäre das ein richtig schönes Urlaubsziel.

Weder technisch noch optisch gibt es an Atomfall wirklich viel zu bemängeln. Das britische Studio Rebellion Developments, das man vermutlich durch die Sniper Elite, die Zombie Army-Reihe oder den Klassiker NeverDead schon kennen könnte, hat hier ganze Arbeit geleistet und ein optisch imposantes Spiel geschaffen, das auf der Series X und PlayStation 5 verdammt gut aussieht und detaillierte Umgebungen mit atmosphärischen Licht- und Schatteneffekten liefert, die man gern erkundet. Auf der Series S fällt die Qualität leider merkbar ab, habt ihr also die Wahl nehmt lieber eine der anderen Konsolen oder direkt die PC-Fassung. Auch da gibt es zwar immer wieder mal ein paar Kleinigkeiten wie NPCs die ineinander glitchen, Texturen die ein bisschen lange zum Nachladen brauchen, aber so richtig gestört haben diese Mini-Bugs mein Spielerlebnis nicht und es hat auch keine Questline gegeben, bei der ich grobe Probleme durch das Spiel hatte. Mit ein paar Patches ist da sicher noch ein bisschen Luft nach oben, ich habe aber auch wirklich schon wesentlich verbuggtere Spiele gespielt.

"Atomfall übernimmt sich nicht in seiner Vision und Rebellion liefert ein gleichzeitig reduziertes aber trotzdem komplexes Spielerlebnis, von dem es in diesem Stil gerne mehr geben darf."

Nach meiner ersten Anspiel-Session vergangenes Jahr in Köln auf der gamescom war ich sehr gespannt, was uns in der Vollversion von Atomfall erwarten wird und hatte zu dem Zeitpunkt noch mit einem umfangreicheren Open World-Titel im Stile eines Fallout gerechnet. Schlussendlich ist das Spielerlebnis wesentlich kompakter und ganz ehrlich - ich mochte das richtig gerne. Nach anfänglicher Ratlosigkeit dem Hinweis-System des Spiels gegenüber, die sich aber auch mit den Gefühlen des Protagonisten deckt, wurde ich komplett ins Spielerlebnis gezogen und habe mich immer wieder richtig schlau gefühlt, wenn ich den nächsten Hinweis richtig gedeutet habe und dem Entkommen aus der Zone einen Schritt näher war. Atomfall übernimmt sich nicht in seiner Vision und Rebellion liefert ein gleichzeitig reduziertes aber trotzdem komplexes Spielerlebnis, von dem es in diesem Stil gerne mehr geben darf. Die einzelnen Gebiete bieten viel zu entdecken, sehen dabei richtig schön aus und ich habe meine Spielzeit im Lake District sehr genossen. Wenn ihr ein Game Pass-Abo habt, solltet ihr auf jeden Fall mal einen Blick riskieren, aber auch sonst kann ich euch das Spiel definitiv ans Herz legen, wenn ihr mit dem Setting was anfangen könnt und jetzt nicht unbedingt Bock habt 200h durch die nächste Open World zu creepen.

Wertung zu Atomfall von Rebellion Developments
4 von 5 Telefonzellen.